Mit guten Bildern protestieren
Tim, du bist muli Fahrer der ersten Stunde, betreibst das Blog radpropaganda.org und hast in Hamburg schon viele Rad-Initiativen angeschoben. Dazu gehörten Fahrrad-Workshops für Geflüchtete auf Kampnagel, der „Raum für Fahrradkultur“ in der Hamburger Innenstadt – und so manche Pro-Fahrradaktion im Netz oder "klassisch" vor Ort, gehen auch auf deine Kappe. Hat sich in all den Jahren schon was geändert?
Grundsätzlich ist Radverkehr als Thema in der öffentlichen Debatte angekommen. Viele Dinge, für die wir früher mit der Critical Mass auf der Straße waren oder die wir im Netz propagiert haben, sind heute auf dem Weg. Auch in Hamburg wird langsam neue Fahrradinfrastruktur sichtbar. Es gibt Förderungen für den Kauf von Lastenrädern und Sachen wie Jobrad-Leasing und öffentliches Fahrrad-Sharing. Das sind alles Schritte in die richtige Richtung. Gerade bei der Infrastruktur haben sicher auch die Lockdowns einen Beitrag geleistet. In Städten wie Paris und Berlin wurden in der Pandemie aus Auto-Fahrstreifen Pop-Up-Bikelanes. In Hamburg waren die politisch Verantwortlichen eher zögerlich, während anderswo schon Protected-Bikelanes verstetigt wurden, gab es hier vereinzelt temporäre Verkehrsversuche - also gelbe Linien auf den Straßen. Aber es geht voran, zwei Jahre später werden auch hier die ersten Pop-Up-Bikelanes dauerhaft eingerichtet. Vieles dauert lange und ist häufig nicht konsequent – das hat Gründe: Nach wie vor ist die Planung in den Vorschriften - aber auch in den Köpfen - in der Regel autozentriert. Wenn von Verkehr gesprochen wird, ist Autoverkehr gemeint. Das zeigt sich leider noch allzu häufig in der Umsetzung neuer Infrastruktur auf der Straße.
Haben die Fortschritte und die breiter geführte Debatte auch deine Perspektive oder deinen Umgang mit dem Thema verändert?
Natürlich, das ist ja alles ein Prozess. Veränderung der Debatte, Situation vor Ort, persönliche Lebenssituation und Alltagserfahrungen – alles verändert die Perspektive fortlaufend. Mich beschäftigt zunehmend, was unmittelbar vor meiner Tür und in meiner Stadt passiert. Ich engagiere mich direkt bei mir im Viertel für eine menschenfreundliche Mobilität und versuche die ungleiche Raumverteilung in der Stadt an praktischen Alltagsbeispielen aufzuzeigen und zu benennen. Es ist nicht okay, wenn Rad und Fußwege zugeparkt werden; dass unsere Kinder auf Spielplätzen eingezäunt sind, während wir den öffentlichen Stadtraum an hüfthohe Autos abgegeben haben.
Wenn von Verkehr gesprochen wird, ist Autoverkehr gemeint.
Was können wir dagegen tun?
Wir sollten aufhören zu akzeptieren, dass es für kleine Kinder vor ihrer Haustür zu gefährlich zum Herumlaufen ist. Die strukturellen Probleme bestehen also weiterhin. Bis zur menschenfreundlichen Stadt ist es – allen Fortschritten zum Trotz – noch ein weiter Weg. Ich glaube aber es ist wichtig, diese kleinen Fortschritte zu nutzen, um die positiven Bilder zu stärken und zu multiplizieren. Anders als früher, gibt mir die aktuelle Entwicklung zunehmend Gelegenheiten, das zu tun. Als Fotograf und Gestalter habe ich die Möglichkeit mit positiven Bildern zu protestieren, Neues zu dokumentieren und dem überholten gestrigen gegenüber zu stellen.
Du begleitest muli als Fotograf mit der Kamera aber auch als Berater. Auch für den neuen Webauftritt hast du die Bilder gemacht. Was hat dich dabei geleitet?
Mein Ziel war es eine Bildwelt mit Motiven zu erschaffen, die nah an den Menschen ist, die selbst viel Fahrrad fahren. Also habe ich im Freundes- und Bekanntenkreis nach „Models“ wie zum Beispiel Badrieh oder Felix gesucht – und sie mit meinem muli und einem kleinen Foto-Setup begleitet. Mir war es wichtig, möglichst wenig zu inszenieren. Herausgekommen ist eine Mischung aus Street-Fotografie und dokumentarischem „Dabeisein“. Auch wenn das Wetter nicht immer auf unserer Seite war, hat mir diese Art des Arbeitens viel Spaß gemacht und ich freue mich über das Ergebnis.
Was war der Grund für diese eher unkonventionelle Herangehensweise?
Zum Glück ist es so, dass ich mir für muli keine lebensbewusste Stock-Image-Person ausdenken muss. Es gibt einfach wundervolle Menschen, die bereits muli fahren oder sich dafür begeistern. Warum nicht ihre Geschichten erzählen? Dabei muss das Fahrrad nicht mal im Vordergrund stehen. Es ist Mittel zum guten Zweck und ich brauche das nur noch auf Bildern festzuhalten. Das hilft dem Produkt und der Verkehrswende - und mir macht es Freude mit guten Leuten zu arbeiten. Etwas Nachhaltigeres kann ich mir kaum vorstellen.
War das eine Vorgabe für das Shooting?
Nein. Ich würde es eher als kreativen Prozess beschreiben. Ich war in direkter Abstimmung mit Sören von muli und offen für den Input der Protagonist:innen. Bei der Umsetzung hatte ich freie Hand. Ich mag es, in einem Moment an einer Marke zu arbeiten, wo noch nicht alles gesetzt ist und ich aktiv und ganzheitlich gestalten kann. Das geht natürlich nicht immer und überall. Wenn möglich, versuche ich mich garnicht erst auf eine Rolle z.B. als Fotograf zu beschränken, sondern auch auf das Produkt und die Menschen dahinter einzuwirken - damit gemeinsam Neues entsteht.
Auch die Produktaufnahmen bei mir im Studio sind wir eher künstlerisch angegangen. Wegen der weltweiten Liefer-Engpässe in der Pandemie mussten wir sehr flexibel sein und über einen langen Zeitraum verteilt shooten. Was mir wiederum die Möglichkeit gegeben hat mich länger mit den Rädern und Bildern zu beschäftigen und mehr ins Detail gehen zu können – der Mehraufwand hat sich gelohnt wie ich finde … ich kenne jetzt wirklich jede Schraube.
War es von Vorteil, dass du muli schon lange kennst?
Unbedingt. Ich selbst fahre muli seit dem Startnext-Crowdfunding 2017. Es hat mir bei kompletten Umzügen, Großeinkäufen und Fotoproduktionen geholfen. Irgendwann kamen der Kindersitz, das Verdeck und Familienausflüge dazu. So wie das muli mit mir wuchs, wachse ich jetzt mit der Marke.
Was würdest du gerne noch verbessern?
Wir alle machen ja Kompromisse irgendwo. Wichtiger „als alles richtig machen zu wollen“ finde ich, Feedback und Kritik zu hören, offen für Diskurse zu bleiben und immer wieder die eigene Arbeit zu reflektieren. Konkret bin ich sehr gespannt auf die neue Version des muli Regenverdecks - lacht - und bezogen auf meine Arbeit ist mir persönlich die Auswahl der Protagonist:innen, die beim Relaunch der Seite zu sehen sein werden, noch nicht divers genug. Aber wir sind ja erst am Anfang der Serie und werden hoffentlich noch viele interessante Menschen vorstellen können.
Und du bist hoffentlich noch nicht am Ende deines Aktivismus. Was planst du noch?
Aktivismus funktioniert für mich am besten, wenn man Szenarien erschafft, in denen Menschen einen möglichen Idealzustand erleben können. Auch deshalb hat die Critical Mass so viel erreicht. Es ist ein sehr eindrückliches Erlebnis, wenn tausende Radfahrende gemeinsam den Platz nutzen, der sonst nur den Autos vorbehalten ist. Und weil man damit nicht früh genug anfangen kann – freue ich mich besonders, den ersten „Bicibus“ in Hamburg mit anzuschieben. Die Aktion ist inspiriert von einer Initiative in Barcelona, wo Kinder jeden Freitag als Verband zusammen zur Schule fahren. Am Anfang waren es nur ein paar Familien, die auf Fahrrädern, Rollern oder Rollschuhen unterwegs waren, dann wurde eine Bewegung daraus. Ich hoffe das gelingt auch in Hamburg.
Danke für das Gespräch!
Mehr über Tim auf instagram.com/tm_kaiser und unter tmksr.com und zum Thema Fahrradkultur auf Radpropaganda.org oder instagram.com/radpropaganda.